Abt. Rettung des Tages


Unter dem Namen "Rettet den Schweizer Wald" wurde eine Initative <a href=www.swissinfo.org target=blank>eingereicht . Nur, warum ist der verloren wenn nicht im Auftrag der "Helvetia Nostra" (und einiger Förster die sich jedoch nicht öffentlich mit dem populistischen, gerne auch Esoterik und mehr vertretenden Initator Franz Weber in Verbindung bringen lassen wollen) Elsässerinnen gegen einen kleinen Zustupf am Rheinufer Unterschriften sammeln?


Ökologisch und kostengünstig:

Lasst die Schweiz verwildern!

Markus Schneider

Vergandung. Dieser Begriff klingt in den Ohren von Politikern und Tourismusleuten wie Hochverrat. Zu Unrecht: Das Land würde wirtschaftlich erblühen, liesse man auf seinen Alpen und Weiden endlich die Natur walten. Mehr Urwald, weniger Bauern – und allen ginge es besser.

Stell dir vor: Das Gras wächst. Und kein Bauer mäht es. Kein Bauer lässt es beweiden. Das Gras wächst einfach. Bis es verbuscht. Aber auch kein Gärtner tut etwas. Der Busch wächst einfach. Bis er verwaldet. Und jetzt stell dir vor: Es greift auch kein Förster ein. Der Wald wächst, wird dichter, bis die ersten Bäume sterben, das Totholz bleibt liegen, die Natur triumphiert, aus Totholz wird Frischholz und aus der Schweiz ein Urwald.

Was etwas wild klingt, könnte klug sein. Mehr Wald, der nicht bewirtschaftet wird, kostet keinen Franken Subvention. Mehr Wald, der schnell wächst, absorbiert eine schöne Menge CO2 auf natürliche Weise. Mehr Wald zieht sogar Touristen aus aller Welt an, falls die Schweiz bereit ist, ein paar Wanderwege und Trekkingpfade durch die neue Wildnis zu schlagen. Sie könnte sich das leicht leisten, wenn sie auf alle die Milliarden und Millionen für die Land- und Forstwirtschaft verzichtete. Mehr Wald bedeutet ein Stück Paradies im Herzen Europas.

Von wegen Waldsterben

Gegen dieses Szenario stemmen sich hiesige Patrioten mit voller Kraft. Sie sehen eine Bedrohung und fassen diese in ein Wort, das negative Assoziationen wecken soll: «Vergandung». Eine Vergandung will niemand, zuletzt SVP-Bundesrat Christoph Blocher, der kürzlich mit seiner Olma-Rede die staatlich geförderte Landwirtschaft radikal in Frage gestellt hat. Doch selbst Blocher ist kein strammer Neoliberaler, der die Subventionen auf null zurückfahren möchte, sondern ein gelernter Bauer. Und als solcher weiss er: Die Landwirte hätten «dafür zu sorgen, dass das Land nicht vergandet». Blochers Fazit: «Der Bauer ist Landschaftspfleger.»

Das ist im Sinn der SVP, im Sinn der Bauern und sogar im Sinn der Verfassung. In Artikel 104 werden die hohen heutigen Kosten der Landwirtschaftspolitik wörtlich so gerechtfertigt, dass sie «b) zur Pflege der Kulturlandschaft» und «c) zur dezentralen Besiedelung des Landes» einen wesentlichen Beitrag leisten sollen. Eine Wiese ist eine Wiese ist eine Wiese, während ein Tal, das in den Bäumen versinkt, bald menschenleer würde.

Genau dieses Horrorszenario wird Realität. Die Schweiz verwaldet, verwildert, vergandet – langsam zwar und unauffällig, aber der Prozess ist bereits messbar. Während die Bevölkerung gemäss Umfragen weiterhin glaubt, dass es immer weniger Wald gibt, wächst laufend mehr Wald nach. Die Landwirte immerhin merken das und schlagen Alarm: «Die Verwaldung schreitet mit einem jährlichen Wachstum von fast zehn Millionen Kubikmetern Holz voran. Das ergibt pro Sekunde einen Würfel mit einer Kantenlänge von beinahe siebzig Zentimetern», hiess es neulich in der Zeitung Schweizer Bauer.

Diese Beobachtung deckt sich mit den offiziellen Erhebungen der Bundesbehörden. Pro Sekunde vergandet ein halber Quadratmeter, pro Jahr wächst der Wald um die Fläche des Walensees. Gemäss der Arealstatistik des Bundesamts für Statistik hat die Landwirtschaft innert zwölf Jahren mehr als 48000 Hektaren oder 3,1 Prozent ihrer Nutzfläche eingebüsst. Zwei Drittel davon wurden verbaut und mussten neuen Siedlungsflächen weichen, hauptsächlich im Talgebiet. Das dritte Drittel freilich geht zurück an die Natur. In steilen und abgelegenen Lagen spriessen auf nicht mehr genutzten Wiesen und Weiden zunächst Büsche, später Bäume. Innert zwölf Jahren wachsen gemäss der Arealstatistik auf mehr als 18000 Hektaren Wald nach.

Die Bäume müssen nicht gepflanzt werden, sie wachsen wild, ohne menschliches Hinzutun. Selbstverständlich läuft dieser Prozess nicht überall gleich ab. Die Vergandung setzt bereits in den Voralpen und im Jura ein, findet aber vor allem in den Alpen statt – dort, wo die Landwirtschaft bereits heute kaum mehr rentiert. Anders in der Ebene, im Mittelland. Hier wird die Landwirtschaft wohl nie vollständig verschwinden, selbst wenn der Staat seine Subventionen auf null reduzierte. In den Hügeln hingegen schon. Je weniger Agrarhilfen es in Zukunft noch gibt, um so schneller läuft die Vergandung.

Das Ende dieser Entwicklung kann man bereits besichtigen: im Norden des Kantons Tessin. Nirgendwo sonst in der Schweiz finden sich so grosse zusammenhängende Waldgebiete wie hier. Und nirgendwo sonst wird der Wildwuchs vom Menschen so wenig bewirtschaftet wie hier.

Ist das schlimm? Hat sich das Tessin in einen dunklen Urwald verwandelt? Der Journalist Oswald Iten, ein Kenner der Tropen, bestätigt, «dass die Tessiner ein anderes, weniger protektives Verhältnis zur Natur haben als die Deutschschweizer». Iten bereist für die NZZ den ganzen westlichen Teil des Onsernonetals, wo tausend Hektaren an der Grenze mit Italien zu einem geschützten Waldgebiet werden, in dem die Holzwirtschaft keine Rolle mehr spielt. «Dagegen gibt es absolut keine Opposition», die Bevölkerung sei darob im Gegenteil «contenta».

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Waldfläche in der Südschweiz verdreifacht. Mit einem Anteil von fünfzig Prozent am Territorium ist das Tessin heute der waldreichste Kanton der Schweiz – und wohl gerade deshalb eine Attraktion für Touristen. Selbst Deutschschweizer SVP-Bauern können, wenn sie wollen, diese Tessiner Wälder erwandern. Sie kämen immer wieder an Ruinen vorbei – Zeugen dafür, dass hier Häuser waren, in denen früher Menschen wohnten.

Engelshaar und Dreizehenspecht

Der berühmteste Urwald-Protagonist der Deutschschweiz kommt aus dem Muotatal. «Die Leute hier sagten, es sei wüst, eine Sauordnung, weil alles Holz liegen bleibt.» Walter Kälin, Jahrgang 1919, diplomierter Fortstingenieur, hat den Bödmeren-Wald entdeckt – und bewahrt. «Wir müssen Totholz im Wald haben, damit es Humus gibt. Neunzig Prozent der Verjüngung geschehen auf dem Moderholz. Das ist normal in der Natur. Ein Baum, der abstirbt, wird rezykliert und wird zu Humus. Derartige Gedanken kannte ich früher auch nicht. Erst in der Bödmeren habe ich das begriffen.»

Warum setzt sich der Förster Walter Kälin so sehr dafür ein, dass die Förster möglichst wenig zu tun haben? «Da muss ich Zahlen nennen, was ich zwar nicht gerne mache. In der Bödmeren ist die Biodiversität enorm gross. Es gibt über hundert Sorten Flechten an den Bäumen. Eine davon ist die Usnea longissima, das Engelshaar. In Österreich hat ein Flechtenforscher dreissig Jahre danach gesucht, es aber nicht gefunden. Wenn jetzt geholzt würde, würde sie verschwinden. Dann haben wir schätzungsweise tausend Sorten Pilze, sogar den Cordyceps michiganensis, der nur in Michigan und in der Bödmeren gefunden wurde. Es kommen sämtliche Vogelarten vor, die im Gebirge heimisch sind. Auch Arten, die ganz selten sind, wie der Dreizehenspecht. Ich konnte einmal ein Pärchen dabei beobachten, wie es Borkenkäfer aus der Baumrinde herauspickte. Etwas Wunderbares. Und Moose gibt es; ein Spezialist fand 265 Sorten.»

Das heutige Urwald-Reservat Bödmeren im Muotatal misst 70 Hektaren. Eine Ausweitung auf 400 Hektaren, für die alt Kantonsförster Walter Kälin wie ein Bär gekämpft hat, wurde von der Kooperation, die diesen Wald besitzt, vor drei Jahren abgelehnt. So klein das Bödmeren-Reservat ist, es handelt sich um das mit Abstand grösste Stück unberührten Waldes in der Schweiz. Im Kanton Wallis gibt es den Tannenurwald von Derborence, 22 Hektaren klein, im Bündnerland bei Brigels den Fichtenurwald Scatlé, 9 Hektaren klein. Alle übrigen Wälder der Schweiz sind irgendwann von Menschen bewirtschaftet worden. Daraus wird nach strenger Lehre nie mehr Urwald – sondern im besten Fall ein Nationalpark oder wenigstens ein Naturwald, wie er im Sihlwald bei Zürich oder im Onsernonetal im Tessin entsteht.

Der Stadt-Wald-Graben

Im Nachgang zum Sturm «Lothar» vom 26. Dezember 1999 offenbarte sich: Unsere Förster wissen gar nicht mehr, wie die Prozesse in der freien Wildbahn der Natur ablaufen. «Besonders in tiefen Lagen zeigte der Wald eine grosse Dynamik und eine bis anhin kaum anerkannte Fähigkeit zur natürlichen Verjüngung», heisst es dazu in einem neuen Bericht des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal).

Die wichtigste Erkenntnis aus der Sturmbewältigung lautet jetzt offiziell: «Sturmholz muss nicht immer geräumt werden.» Im Gegenteil: Bleibt das Totholz liegen, wird es zum Garten Eden für allerlei Insekten – und die jungen Bäume wachsen von allein. Unabhängig von der Subventionspraxis hat sich der Wald nach den Sturmschäden nämlich überall gleich gut erholt. Das deute darauf hin, formuliert das Buwal in seinem Bericht vorsichtig, «dass ein Teil der öffentlichen Gelder ineffizient eingesetzt wurde».

Wollen die Schweizer Wissenschaftler herausfinden, wie ein richtiger Urwald funktioniert, müssen sie sich im Ausland umsehen. Damit auch das Schweizervolk die wirkliche Wildnis kennen lernen kann, hat die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) mit Sitz in Birmensdorf ZH einen populär geschriebenen Reiseführer für das Karpaten-Biosphären-Reservat in der Ukraine herausgegeben: «Urwälder im Zentrum Europas», so der Titel.

«Es gibt auch in der Schweiz eine Nachfrage nach mehr Wildnis», sagen Marcel Hunziker und Nicole Bauer, zwei Sozialwissenschaftler der WSL. Aus ihrer Sicht ist die Verwaldung «kein Problem, sondern eine Chance». Die WSL-Forscher haben in den letzten Jahren verschiedene Befragungen durchgeführt und den Leuten auch Fragebogen mit Landschaftsbildern vorgelegt. Zum Beispiel von Savognin: zuerst ein Bild von heute, mit den vielen Wiesen rund ums Dorf und dem spärlich anmutenden Wald in den Höhen. Der Fragebogen enthielt aber auch ein bearbeitetes Foto der Zukunft: eine fast schon kanadisch anmutende Landschaft. Rund ums Dorf Savognin wächst der Wald, nur noch die Skipisten werden freigehalten, ansonsten gibt es keine Landwirtschaft mehr. Die Reaktion auf diese Fotos sei «verblüffend», sagt WSL-Forscher Hunziker. «Die heutigen, traditionellen alpinen Kulturlandschaften kommen höchstens gleich gut, zum Teil sogar schlechter weg als die Flächen, die vom Wald zurückerobert worden sind.»

Es sind selbstredend die urbanen Schichten, die sich positiv zur Wildnis äussern, während die betroffene Bevölkerung in den ländlichen Gebieten ablehnend eingestellt ist. «Es ist Zeit, dass wir uns endlich offen mit der Frage auseinander setzen, wie viel von welcher Landschaft wir wo haben wollen», sagen die WSL-Sozialwissenschaftler. Das gelte sowohl für die hügelige und bergige Schweiz wie für die flache und urbane.

Diese Diskussion neu lancieren wollen die vier Schweizer Stararchitekten Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili und Pierre de Meuron. Seit fünf Jahren führen sie zusammen das «Studio Basel» der ETH Zürich. Ihr Thema: die Schweiz als Ganzes. Im Laufe dieses Jahres soll endlich ihr grosses, aufwendiges Buch erscheinen: «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt». Im Zentrum des Projekts steht eine spezielle Landkarte, welche das jeweilige «urbane Potenzial» zeigt. Das Abbild des Alpenraums, sagt Marcel Meili, «hat auch uns überrascht». So gibt es grossflächige Skiresorts im Westen (Grindelwald, Wengen, Adelboden, Leukerbad, Gstaad, Les Diablerets, Verbier, Haute-Nendaz, Crans-Montana, Evolène, Zermatt, Grächen, Saas Fee, Rieder- und Bettmeralp), aber auch im Osten (Flims/Laax, Lenzerheide-Valbella, Arosa, Davos, Bergün, St. Moritz). Aber in der Mitte der Schweiz? Ist nichts. «Wir sind, als wir die Situation verbildlicht haben, staunend vor diesem riesigen, zusammenhängenden ‹Loch› in der Mitte der Schweiz gestanden», erzählt Meili in der Fachzeitschrift werk, bauen + wohnen.

In der Mitte der alpinen Schweiz, wo der Transitverkehr durch den Gotthard rollt, vergandet das Land. In der Sprache der Architekten heisst das: Es entsteht eine Brache. Zum Beispiel in Wassen UR. Das Dorf mit dem berühmten Kirchlein, das jeder Bahnfahrer kennt, «entleert sich fortlaufend», haben die Architekten des «Studio Basel» herausgefunden. «Häuser in der Mitte des Dorfs sind nur noch teilweise bewohnt. Das ganze Gleichgewicht von Urbanisierung und Kultivierung, das sehr lange ziemlich stabil gewesen ist, steht nun in einer andern, dynamischen Phase.»

Und in der Ebene? Dort ist die Landschaft auch bedroht, aber nicht von der Vergandung, sondern von der Überbauung. Aktuelles Beispiel ist der Streit um eine Landwirtschaftszone in der Nähe des Murtensees. In Galmiz FR sollen 55 Hektaren Fruchtfolgefläche einer Pharmafabrik weichen, das Bundesamt für Raumentwicklung hat im Grundsatz zugestimmt, obschon diese Einzonung «raumordnungspolitisch nicht optimal» sei. Der Zorn unter den Betroffenen ist gross: «Der Standortwettbewerb zwischen den Kantonen zeigt sich von seiner hässlichsten Seite. Die Ziele des Raumplanungsgesetzes werden ignoriert. Auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wird zugunsten finanzieller Interessen verzichtet. Das Argument neuer Arbeitsplätze hat anscheinend Vorrang vor jeder sachlichen Beurteilung», schreibt ein Kleinbauer in einem Leserbrief an den Schweizer Bauer.

Im Mittelland ist nirgendwo richtig Land und nirgendwo richtig Stadt. Die umweltschützerischen Argumente setzen sich leider nicht in den stillen Zonen durch, etwa in Galmiz, sondern in den lauten, etwa in Zürich West. Dort haben Klagen über den «zusätzlichen Verkehr» oder «Schattenwurf» den Bau einer Fussballarena zumindest verzögert. Der verhinderte Stadionarchitekt Marcel Meili: «Die einschneidende Luftreinhalteverordnung, die für das urbane Zürich West genauso gilt wie für das grüne Oberland, ist dabei der entscheidende Faktor. Sie ist zwar gut und fortschrittlich, führt aber dazu, dass ein Siedlungsteppich erzeugt wird, der bald das ganze Land zudeckt.» Für Marcel Meili gibt es hier nur eine Lösung: «Man müsste in grösseren Zusammenhängen denken: Wo ist es sinnvoll, Ballungszentren zu schaffen? Wo sollen Freiräume bleiben?»

Im Rahmen des «Studio Basel» engagiert sich Meili nun für «stärker differenzierte grossräumige urbane Strukturen». Aus der Schweiz soll eben kein Siedlungsbrei entstehen, kein europäisches Los Angeles. Sondern drei Metropolen (Zürich, Basel/Mulhouse, Genf/Lausanne), und zwischen diesen Zentren sollen auch stille und grüne Zonen freigehalten werden (Toggenburg, Entlebuch, Emmental, Haute-Broye), so wie im Alpenraum zwischen den grossflächigen Resorts im Westen und Osten das grosse Loch in der Mitte klafft: die alpine Brache.

Aus der Leere entsteht Neues

Vergandung wirkt auf die dort ansässige Bevölkerung als Bedrohung, selbstverständlich. «Aber für die Schweiz als Ganzes gibt es keinen für uns vorstellbaren Grund, noch das letzte Alpental wirtschaftlich weiter produktiv zu halten», sagt Marcel Meili. «In den zentralen alpinen Gegenden stellt sich diese Frage besonders hart. Aus gesamtschweizerischer Sicht ist dort das Überhandnehmen der Natur und die Entvölkerung selbstredend keine Katastrophe. Es ist ja zunächst noch nicht völlig beunruhigend, dass irgendetwas in diesem Land mal nicht überbaut wird.» Vor allem aber laufen diese Prozesse «offenbar so oder so ab, ob wir das nun bedauern oder nicht». Meilis Fazit: «Aus den Brachen entsteht Neues. Entweder eine Art Urwald, oder es bilden sich aus der Entleerung heraus neue lokale Initiativen, andere Projekte und Ideen.»

Das sind keine weltfremden Fantasien. Der ETH-Agrarwirtschaftsprofessor Peter Rieder hat für den Kanton Graubünden eine ähnliche Differenzierung ermittelt: Er spricht von vier Polen. Zunächst das eher urbane Zentrum rund um Chur mit Ems und der Bündner Herrschaft. Der zweite Pol, das sind die mondänen Resorts wie Davos. Den dritten Pol bilden die Orte mit etwas weniger Tourismus samt Gewerbe, zum Beispiel im Unterengadin. Aber dann gibt es im Kanton Graubünden eben auch einen vierten Pol: «Die 140 übrigen Täler im Land der 150 Täler», sagt Peter Rieder, geboren in Vals GR. In diesen 140 übrigen Tälern schrumpft die Bevölkerung, diese Gebiete sind wirtschaftlich stark gefährdet. «Viele der kleinen Gemeinden werden stets noch kleiner.»

Wirkungslose Geldspritzen

Soll der Staat politisch eingreifen? Dass die Landwirtschaftsmilliarden nicht genügen, um eine Abwanderung der Menschen aus den abgelegenen Regionen zu verhindern, haben die Politiker erkannt. 1974 starteten sie die offiziell so genannte Regionalpolitik mit dem Bundesgesetz über die Investitionshilfe für Berggebiete (IHG), welche sich auf die spezielle «Förderung von wirtschaftlich benachteiligten Gebieten» konzentrieren wollte.

Das war ein radikaler Wechsel in der Politik: «Während mehr als hundert Jahren zuvor wurde in der Schweiz die Bevölkerungsabwanderung aus wirtschaftsschwachen in wirtschaftsstarke Regionen toleriert, teilweise sogar unterstützt», heisst es in einem Bericht des dafür zuständigen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). «Heute wird die Abwanderung leider völlig tabuisiert», ergänzt der Basler Regionalökonom René L. Frey. «Dabei profitieren die meisten Städter davon, dass ihre Väter, Grossmütter, Urgrossväter diesen Schritt gewagt haben oder aus schierer Not machen mussten.» Diese innerschweizerische Wanderung hat sich früher tatsächlich positiv ausgewirkt – auf die Peripherie wie das Zentrum. Ein Zürich ohne die Einwanderer aus den Bündner, Urner, Glarner, Obwaldner Bergen wäre nie so lebhaft und vielfältig wie das Zürich von heute.

Nach 1974 hat die Politik versucht, die abgelegenen Regionen zu fördern. Das viele Geld, das in die hintersten Täler gepumpt wurde, hat jedoch wenig bewirkt. Im Bericht zur «Neuen Regionalpolitik» heisst es denn ernüchternd: «Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Problematik potenzialschwacher und peripherer Lagen nicht primär durch den Bund gelöst werden kann.» Selbst der berühmte Service public, verstanden als flächendeckende Versorgung mit Telefon, Post, Strassen, SBB, Postautos, Strom, hilft nicht weiter: «Eine Grundversorgung mit öffentlichen Dienstleistungen allein kann strukturschwache Regionen nicht überlebensfähig halten», heisst es in einer neuen Nationalfonds-Studie.

Deren Autoren, ETH-Regionalökonomen rund um Alain Thierstein, empfehlen im Prinzip dasselbe wie die vier Stararchitekten: den Mut zu einer «expliziten räumlichen Differenzierung». Sie wollen aber keine nationale Planung, sie wollen vor allem die Kantone in die Pflicht nehmen. Ein Schritt in diese Richtung hat der Kanton Graubünden mit einem Richtplan getan, der auch «unterschiedliche Ansprüche an die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen» formuliert. Nicht jedes Tal der 150 Täler soll gleich gut erschlossen werden.

An diesem Punkt setzt auch die Ökonomin Priska Baur von der WSL-Forschungsanstalt in Birmensdorf ein: «Heute gehen wir stillschweigend davon aus, dass alle Bergtäler besiedelt und gepflegt sein sollen. Bei der Vergandung sollte aber immer auch gefragt werden: Was nützt es, sie zu verhindern, und was kostet es? Und wer soll das bezahlen?» Priska Baur jedenfalls wundert sich, warum in der Schweiz solche Fragen kaum gestellt werden. «Sind wir bereit, für die Verhinderung der Vergandung weiterhin so viel Geld auszugeben wie heute?»

2,5 Milliarden Franken zahlen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler allein für die Bewirtschaftung der ganzen Fläche durch Landwirte. Diese Direktzahlungen kommen zu 59 Prozent der Berg- und Hügelregion zugut. Neben diesen Flächenbeiträgen erhalten die Bauern Hangbeiträge, Zulagen für ökologische Ausgleichsflächen, vor allem aber erhalten sie auch zusätzliche Abgeltungen für jedes einzelne Weidetier. «Im Grasland Schweiz», heisst es programmatisch im neuen «Agrarbericht 2004», sei eine «flächendeckende Pflege sicherzustellen».

Tiere auf der Weide werden bürokratisch korrekt «Raufutter verzehrende Grossvieheinheiten (RGVE)» genannt. Halter von Rindern, Pferden, Bisons, Milchziegen sowie Milchschafen erhalten vom Bund im Schnitt etwa 850 Franken pro RGVE. Ausgenommen sind Milchkühe, da die Milch ja speziell subventioniert wird. Werden RGVE «unter erschwerenden Produktionsbedingungen» aufgezogen, nämlich in der Hügelzone oder gar der Bergzone, gibt’s eine Zulage von 260 bis 1190 Franken pro Jahr und Tier. Besonders viele RGVE werden unter erschwerenden Bedingungen gehalten: 525000 Rinder, Schafe, Ziegen. Daneben auch einige Pferde, Bisons, Hirsche, Lamas, Alpakas.

Rettet die Alpen – vor den Kühen

Die Auswüchse dieser staatlich angekurbelten Bergbeweidung bügelt die Schweizerische Rettungsflugwacht Rega aus. Sie rettet jedes Jahr tausend Kälber, Rinder oder Kühe aus sommerlicher Bergnot und fliegt sie «mit Helikopter aus unwegsamem Berggebiet bis zur nächsten gut befahrenen Strasse» – ein Service, der für alle Bergbauern mit einer Familienmitgliedschaft bei der Rega gratis ist. Nebenbei rettet die Rega auch Menschen, gut 700 im Jahr.

Offenbar empfinden es die meisten Einheimischen mitsamt Touristen als «ästhetisch schön», wenn das Vieh oben auf der Alp steht. Sehr natürlich ist das nicht. Alle wilden Tiere, die sich hier aufhalten, sind leichter. Ein Steinbock wiegt 75 bis 120 Kilo, eine Gämse 30 bis 60 Kilo. Wie schwer eine Kuh ist, 500 bis 800 Kilo, erkennt man auch an den Trittschäden auf den Alpwiesen.

Selbst Schafe haben, sobald sie in zu grosser Zahl gehalten werden, «unerwünschte Auswirkungen». Denn die Wildtiere halten sich fern, wie eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) in Amden gezeigt hat. Die Gämsen und Steinböcke kamen erst wieder, nachdem die intensive Schafsömmerung aufgegeben worden war.

Bis vor kurzem hatte die oberste Regierung des Landes noch eine gemischte Strategie, um der Bevölkerung in den abgelegenen Regionen eine Zukunft zu geben: mit einer gepflegten Wildnis. Die Nachfrage nach Naturparks sei gross, meldet die dafür zuständige Organisation Pro Natura. Mit dem Einzug von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat haben sich die Mehrheitsverhältnisse aber verändert. Angesichts der «schlechten Situation der Bundesfinanzen» will der Bundesrat bis zum Jahr 2007 darauf verzichten, dem Parlament gesetzliche Grundlagen für neue Naturparks vorzuschlagen.

«Ich bedaure, dass dieses Projekt abgelehnt wurde», sagte der überstimmte Umweltminister Moritz Leuenberger. «Es wäre ein Beitrag an die Regionalpolitik gewesen.»

Alle zwei Jahre das Gras mähen

Umgekehrt gibt es bis jetzt in der Schweiz niemanden, der für die billigste Lösung kämpft: das Nichtstun, der vollständige Verzicht auf jegliche Land- und Forstwirtschaft. Selbst die Umweltschützer sind hier skeptisch. «Wenn die Menschen beschliessen, ein Tal nicht mehr dauerhaft zu bewohnen, und wegziehen, so ist das weder gesellschaftlich noch ökologisch problematisch», meint zwar Andreas Weissen, der Alpenexperte beim WWF Schweiz, und nennt als Beispiel das Nanztal bei Brig, wo die Dauersiedlungen schon vor Jahrhunderten aufgegeben wurden, und das Zwischbergental, wo nur mehr zwei ältere Personen das ganze Jahr über wohnen. Doch vor der ungehemmten Vergandung warnt Weissen: «Anders sähe es aus, wenn der Alpenraum flächenhaft entsiedelt würde. Dann wären Verluste an kultureller Vielfalt und an biologischer Vielfalt zu beklagen: Rund 25 Prozent der Habitate im Alpenraum sind menschengemacht.»

Just aus diesem Grund kämpft die Organisation Pro Natura eben nicht für die Vergandung – sondern für Naturparks, die zwar viel weniger als die heutige Landwirtschaft kosten würden, aber eben nicht gratis zu haben sind. Schon heute gibt die Pro Natura Geld aus, damit Bauern gezielt einzelne Trockenwiesen und -weiden mitten in Wäldern unterhalten und mindestens jedes zweite Jahr das Gras schneiden. «Die Wiesen und Weiden zu schützen, ist für die Artenvielfalt in der Schweiz dringend, besonders für die Schmetterlinge», sagt Pro-Natura-Landwirtschaftsexperte Beat Jans und warnt davor, weitere Flächen aufzugeben. Seit den fünfziger Jahren seien bereits 90 Prozent der Flächen verschwunden: entweder zugebaut, überdüngt, oder zugewachsen mit Büschen und Bäumen.

«Aus den lichten, durch starke bäuerliche Nutzung geprägten Wäldern und Waldresten des 19. Jahrhunderts sind heute dichte, dunkle und geschlossene Hochwälder geworden», steht anklagend in einem neueren Buch des Forums Biodiversität Schweiz. «Auf der Verliererseite stehen die vielen Wärme liebenden Arten, die lichte Wälder mit besonnten Böden benötigen, wie zahlreiche Insekten, Orchideen oder andere seltene Pflanzen.»

Die kleine Schweiz ist so klein, dass alle Leute, selbst die Naturschützer, überall alles haben wollen. Ein bisschen Wildnis, aber nur ein bisschen, denn gleich daneben sollen auch ein paar Wiesen freigehalten werden. «Man will die grösstmögliche Vielfalt auf kleinster Fläche», erkennt Marcel Hunziker von der Forschungsanstalt WSL. Dabei käme es selbst dann nicht zu einer schweizweiten Vergandung, wenn wirklich die gesamten Landwirtschaftssubventionen gestrichen würden. Denn das verhindern die Ferienresorts im Osten und im Westen. Eine Destination wie Grindelwald habe im Sommer fast die gleiche Auslastung wie im Winter, und daraus folgert Marcel Hunziker: «Grindelwald wird weiterhin besorgt sein, dass in Zukunft die Gegensätze erhalten bleiben: eine liebliche Kulturlandschaft neben dem schroffen Hochgebirge.»

Überhaupt kommen sich Skipisten und Wälder kaum in die Quere. Es müssen allenfalls ein paar Wiesen freigehalten werden für die Abendabfahrten ins Dorf, meist künstlich beschneit. Der eigentliche Skitourismus aber hat seinen Platz, nur schon aus klimatischen Gründen, in den Zonen über 1800 Meter über Meer. Die Vergandung der Schweiz spielt sich naturgemäss etwas tiefer ab – unterhalb der Baumgrenze.

Literatur zum Thema:

Elsbeth Flüeler et al.: Wildnis. Mit Beiträgen von Nicole Bauer, Walter Kälin,
Leo Lienert u.a. Rotpunkt. 271 S., Fr. 42.–

Zeitschrift werk, bauen + wohnen. Nummer 10/2004 zum Thema «Schwund».
Mit Beiträgen von Marcel Meili und Peter Rieder. Werk AG. Fr. 25.–

Urs Beat Brändli: Urwälder im Zentrum Europas. Haupt. 206 S., Fr. 29.–

Alain Thierstein et al.: Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen.
Haupt. 169 S., Fr. 38.–

Zeitschrift Montagna. Nummer 04/2004 zum Thema «Das Nationale Forschungsprogramm Landschaften und Lebensräume der Alpen (NFP 48)». Mit einem Beitrag von Priska Baur. Schweiz. Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB).

Bruno Baur et al.: Biodiversität in der Schweiz.
Haupt. 237 S., Fr. 48.–

Philippe Raetz: Erkenntnisse aus der Sturmbewältigung.
Buwal-Schriftenreihe Nr. 367. 86 S., Fr. 20.–

(c) 2005 by Die Weltwoche, Zürich - E-mail: webmaster@weltwoche.ch

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das weltwocheabo, das ich dir mal schenken wollte, hast du offensichtlich schon.

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