Abt. Ruhe & Ordnung - heute: ist Polizeigeschmackssache


Ruhe und Ordnung

Bild: Collage von John Heartfield zu Tucholskys Gedicht:

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben, wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben – das ist Ordnung. Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht! Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!« Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen, wenn dreizehn in einer Stube pennen – das ist Ordnung. Wenn einer ausbricht mit Gebrüll, weil er sein Alter sichern will – das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee jubeln – und sommers am Comer See – dann herrscht Ruhe. Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln, wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln – dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören. Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören. Nur nicht schrein. Mit der Zeit wird das schon. Alles bringt euch die Evolution. So hats euer Volksvertreter entdeckt. Seid ihr bis dahin alle verreckt? So wird man auf euern Gräbern doch lesen: sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

Theobald Tiger Die Weltbühne, 13.01.1925, Nr. 2, S. 68,

Sommer 2014: Ein paar situationistisch inspirierte Kunststudis und ihre Lehrer_innen nehmen das mit der Kunst, die das Leben verändern soll, ernst. Ihr Programm lautet:

Die zu­nehmen­de Markt­orien­tie­rung des Bil­dungs­we­sens und die ansteigenden Schwie­rig­kei­ten bei der Finan­zier­ung des Gesundheits- und So­zial­we­sens ha­ben zu ei­ner tiefen Verunsicherung in Bezug zur Lehr­freiheit, zu den kulturel­len Freiräumen und zum tra­dier­ten So­li­daritätsge­danken geführt.

Die beschriebe­ne Si­tuati­on fordert ein radikales Umdenken und adäquate Vor­gehensweisen in den Be­rei­chen der Bildung, der Kunst sowie des Sozi­al- und Ge­sund­heits­wesen. Hier er­pro­bt diezel­le krea­tive stra­te­gi­sche Han­dlungs­formen. Ziel ist, ei­nen Bei­trag zur Schaf­fung von würdigen und zeit­gemäs­sen Lebens­formen zu leisten.

Daher ihre Idee zur Pappdeckelchoreographie auf dem Messeplatz als reenactment des Polizeiangriffs auf die Favelasituation an der Art 2013.

Dass die Polizei diesen künstlerischen "Bei­trag zur Schaf­fung von würdigen und zeit­gemäs­sen Lebens­formen" unterbindet, entbehrt nicht einer gewissen tragischen Logik.

Ironischerweise erfährt die Tatsache, dass es diese gesellschaftlich engagierten Künstler_innen auf dem Platz Basel gibt, damit viel mehr Aufmerksamkeit, als wenn die Aktion gelungen wär und diese ihre Spuren lediglich in einer Abschlussarbeit und / oder auf einer obskuren Website hinterlassen hätte!

<a href="www.tageswoche.ch target="_blank“>TaWo: Wann wussten Sie, was geplant war auf dem Messeplatz?

Polizeikommandant Lips: Die Details kann ich Ihnen aus taktischen Gründen nicht nennen. Wir hatten gewisse Kenntnisse, wie Sie auch, aus Quellen, die ich nicht offenlegen kann. Wir wussten, dass eine Aktion geplant war zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, den wir nicht akzeptieren konnten. Es war Freitagabend, Tausende Messebesucher strömten aus den Hallen auf das Areal, das Konfliktpotential war zu gross.

TaWo: Weshalb sind Sie nicht vorgängig auf die Leute zugegangen und haben sie informiert, dass die Aktion nicht geduldet werden würde?

Lips: Diese Frage will ich Ihnen nicht beantworten. Was aber klar ist: Uns war keine verantwortliche Person namentlich bekannt, an die wir uns hätten wenden können. (…)

Die Quellen, die Lips "nicht offenlegen kann", verrieten das "Dass" und "Was" und "Wo" und "Wann", aber nicht das "Wer"? Lips Quellen taugen offensichtlich nichts. Dass er sich mit diesem Halbwissen zufrieden gab, und nicht hartnäckig genug nach dem "Wer" verlangte, wirft kein gutes Licht auf seine Professionalität. Oder wollte er absichtlich nicht zu viel wissen? Riskierte er absichtlich die Möglichkeit einer Eskalation, so absurd und klein sie im konkreten Fall auch war? Oder sagt er bewusst nicht die Wahrheit und hatte die Kontaktdaten zu "diezelle" eigentlich lange vor dem Freitag bereits auf dem Tisch? Unmöglich ist es nicht.

Andererseits steht Lips Aussage in Widerspruch zu dem, was die TaWo am Samstag berichtete davon, was geschah, nachdem Renatus Zürcher den als Harley-Freak "getarnten" Zivilfahnder, der neben dem Schulhof der Schule für Gestaltung auffällig unauffällig herumstand, hatte auffliegen lassen:

Als der Zivilipolizist enttarnt war, tauchte gleich der Einsatzleiter der Polizei auf dem Schulhof auf, er warnte Zürcher davor, die Aktion vorzutragen. Eine Ansammlung von Menschen würde nicht geduldet werden, die Polizei habe ein Veranstaltungsverbot erlassen.
Ganz offensichtlich war der Polizei, zwar infolge ihrer lausigen Recherchen nicht im Vorfeld, aber spätestens ab dem Moment, Renatus Zürcher als irgendwas wie eine Ansprechperson bekannt.

Und wenigstens in Ansätzen war dem Einsatzleiter vermutlich spätestens ab da klar, was die Kunststudis vorhatten. Mindestens Lips, vielleicht auch Dürr, war ab da Zürcher als "verantwortliche Person namentlich bekannt".

Aus ihren "Quellen" wussten sie bereits im Vorfeld, was stattfinden sollte, wie Lips der TaWo zu Protokoll gab. Aber das Geplante passte ihnen inhaltlich nicht:

Polizeichef Lips: "Wir wollten keine Veranstaltung auf dem Messeplatz, die an die letztjährige Favela-Aktion erinnert."

Polizeidirektor Dürr: "Unser Ziel lautete: Wir wollen zu dieser Thematik während der Art keine Veranstaltung. Wer sich nicht daran hielt, wurde untersucht und einer Personenkontrolle zugeführt auf dem Polizeiposten."

Die Polizeispitze beschloss also aufgrund inhaltlicher Kriterien, diese Veranstaltung zu verbieten und Zuwiderhandelnde sich im Keller des Waaghofs nackt ausziehen zu lassen. Dieser Entscheid muss im Vorfeld gefällt worden sein. Und war der Auslöser für die massive Polizeipräsenz. Ein, gelinde gesagt, bemerkenswerter Vorgang!

Steht es diesen Herren tatsächlich zu, eine Kundgebung inhaltlich zu bewerten und ihre Massnahmen nach ihrem Geschmacksurteil über den Inhalt zu richten?

Sollten sie sich nicht vielmehr Inhalten gegenüber agnostisch verhalten und streng und ausschliesslich situativ adäquat handeln, unbesehen vom Inhalt des Geschehens, solange sich letzteres im Rahmen des strafrechtlich Unbedenklichen bewegt? Und das tat die Aktion der paar Studis unzweifelhaft zu jedem Zeitpunkt.

Dürr sagt:

Vor dem Hintergrund der schweren und tragischen Ereignisse des Vorjahres, als mehrere unserer Leute verletzt worden waren, wollten wir für einmal auf der sicheren Seite stehen.
Was er nicht sagt: Die Attacken auf die Staatsangestellten, von denen er spricht, geschahen an einer Folge-Demonstration eine Woche NACH der Favelaräumung. Dürr konstruiert damit also einen inneren Zusammenhang zwischen der aufgeheizten Situation an der Demo, die am 21.6.2013 gegen den massiven Polizeieinsatz am Wochenende davor protestierte, und der Pappteller-Aktion letzten Freitag, dem 20.6.2014. Wie kommt man auf sowas? Haben Wortführer im Polizeikorps Rache verlangt für ihre vor einem Jahr verletzten KollegInnen? Oder war Dürr vor einem Jahr intern unter Druck geraten, weil er seine Leute - in deren Augen - von den Medien hat vorführen lassen, und musste jetzt den starken Mann markieren aus "innenpolitischen" Gründen? Niedere Motive allerorten?

Ein Ausflug ins Formaljuristische

Dürr sagt zur TaWo:

Der Willkür-Vorwurf ist falsch. Denn die polizeiliche Generalklausel gibt der Polizei ein weites Handlungsfeld. Die Polizei könnte eine «Zero Tolerance»-Politik verfolgen und alles abwürgen, was auch nur entfernt potentiell gefährlich ist. Sie kann aber auch fast alles zulassen. Entsprechend gross ist die Verantwortung, richtig zu entscheiden. Wir suchen immer erst Gründe, etwas zuzulassen.
Zum Glück irrt Dürr, respektive: überdehnt den Gesetzestext absichtlich zu seinen Gunsten, um "liberaler" dazustehen. Was formuliert das baselstädtische Polizeigesetz tatsächlich? Welche Leitplanken setzt es der Polizei?
Rechtmässigkeit § 7. Die Kantonspolizei erfüllt ihre Aufgaben unter Beachtung der Gesetzmässigkeit und der Verhältnismässigkeit. 2 Stehen zur Erreichung eines polizeilichen Zwecks mehrere geeignete Massnahmen zur Verfügung, muss diejenige gewählt werden, welche die Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten belastet.

Notrecht § 8. Um bei hoher zeitlicher und sachlicher Dringlichkeit schwerwiegende Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abzuwenden, kann der Regierungsrat gestützt auf die polizeiliche Generalklausel das Notwendige anordnen. 2 Macht der Regierungsrat von dieser Befugnis Gebrauch, gelten die Bestimmungen von § 2 des Übertretungsstrafgesetzes.

Polizeiliche Generalklausel § 9. Die Kantonspolizei trifft im Einzelfall auch ohne besondere gesetzliche Grundlage unaufschiebbare Massnahmen, um unmittelbar drohende Gefährdungen oder eingetretene Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verhüten oder abzuwehren.

Personen- und Fahrzeugkontrolle § 34. Im Zuge einer Fahndung, zur Abwehr einer Gefahr, zur Durchsetzung der Rechtsordnung oder unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 zum Schutz privater Rechte kann die Kantonspolizei die Identität einer Person feststellen und abklären, ob nach ihr oder nach Fahrzeugen oder anderen Sachen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, gefahndet wird oder sie die Rechtsordnung verletzt hat. 2 Die zu überprüfende Person ist verpflichtet, auf Verlangen ihre Personalien anzugeben, mitgeführte Ausweise vorzulegen, Sachen in ihrem Gewahrsam vorzuzeigen und zu diesem Zweck Fahrzeuge und Behältnisse zu öffnen.

Anhaltung § 35. Die gemäss § 34 überprüften Personen können in eine Dienststelle verbracht werden, wenn ihre Identität an Ort und Stelle nicht sicher, nur mit erheblichen Schwierigkeiten oder unter Preisgabe der Diskretion festgestellt werden kann oder wenn Zweifel an der Richtigkeit ihrer Angaben, an der Echtheit der Ausweispapiere oder am rechtmässigen Besitz von Fahrzeugen oder anderen Sachen bestehen.

Im Zweifel für die Pappdeckel: Was die Polizei aufführte am letzten Freitag lässt sich mit diesen Paragraphen nicht legitimieren, sondern verstösst locker mindestens gegen §7, Abs. 2 und §35 des baselstädtischen Polizeigesetzes.

Zur Anrufung der Generalklausel nach §9 als ultima ratio gab es ebenfalls zu keiner Zeit Grund. Es bestand nie eine "unmittelbar drohende Gefährdungen oder eingetretene Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung"!

An einigen Orten auf dieser Welt würde nach so einer Aktion eine Allparteienallianz von ganz links bis ganz rechts im Parlament dem Polizeidirektor gehörig dem Marsch blasen. Im Wissen darum, dass seine Haltung zentrale demokratische Freiheiten von ihnen allen bedroht.

NACHTRAG 25.6. 11:24

Allen, die bis hier hinunter durchgehalten haben, insbesondere auch den Herren Dürr und Lips, empfehlen wir zur Lektüre den Artikel "Die polizeiliche Generalklausel in der Schweiz" (backup: die-polizeiliche-generalklausel-in-der-schweiz (application/pdf, 135 KB) ) von Andreas Zünd (Dr. iur., Bundesrichter, Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts) und Christoph Errass (D Dr. iur., Advokat, Gerichtsschreiber an der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts) zwecks Vertiefung der Thematik...

Dort erfahren sie unter anderem:

Die polizeiliche Generalklausel kommt nur dann zur Anwendung, wenn vorliegt:

  • eine unmittelbar drohende Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit oder Sittlichkeit, und

  • zeitliche Dringlichkeit, d.h., der normale gesetzliche Prozess kommt aufgrund seiner Langsamkeit zu spät, um die konkrete Gefahr abzuwehren.

Damit hat das Bundesgericht deutlich gemacht, dass nur eine Notsituation erlaubt, die ordentliche Staatsfunktionenaufteilung zu durchbrechen.

und explizit in einem BGE:

Die polizeiliche Generalklausel vermag nach Art. 36 Abs. 1 BV eine fehlende gesetzliche Grundlage zu ersetzen und – selbst schwerwiegende – Eingriffe in Grundrechte legitimieren, wenn und soweit die öffentliche Ordnung und fundamentale Rechtsgüter des Staates oder Privater gegen schwere und zeitlich unmittelbar drohende Gefahren zu schützen sind, die unter den konkreten Umständen nicht anders abgewendet werden können als mit gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehenen Mitteln; diese müssen allerdings mit den allgemeinen Prinzipien des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, vereinbar sein. Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel ist auf echte und unvorhersehbare Notfälle beschränkt; ihre Anrufung ist grundsätzlich ausgeschlossen, wenn typische und erkennbare Gefährdungslagen trotz Kenntnis der Problematik nicht normiert wurden. (Z.B. BGE 126 I 112, 118 E. 4b; Urteil 2C_166/2009 vom 30. November 2009 E. 2.3.2.1, in: ZBl 2010, S. 469 ff., 474)

Nichts von polizeilicher Wahlfreiheit zwischen "Zero Tolerance" und "Laissez Faire", Herr Dürr! Die "Generalklausel" ist kein Freibrief für polizeiliche Willkür!


Gut gebrüllt ...

... Löwe!

Das Lob gebührt auch ein bisschen mir, weil ich tatsächlich durchgehalten habe. Überlege mir unterdessen die Anschaffung eines Teleprompters zum angenehmeren Lesen Deiner Texte. ;)

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